Read Weihnachten in der Notaufnahme Page 2

Spitznase, und sieht sehr hübsch aus. Wie alt sie wohl ist? Allerdings hat sie einen Bluterguss am Kinn. Und sie stӧhnt vor Schmerzen. Zum Glück hat Frau Selzer gleich Schmerzmittel verordnet. Ihr verwundetes Bein liegt in einer Schiene und sieht seltsam verformt aus. Das Alter steht auf den Notizen. Dreiundzwanzig.

  “Ich wollte schnell zu meinen Eltern fahren, nein, ich habe kein Auto. Um Weihnachten mit ihnen zu feiern. Gestern konnte ich noch nicht fahren, ich habe doch meinen kleinen Hund. Dafür haben sie keinen Platz, leider. Und dann bin ich ausgerutscht. Da war eine Kurve. Und ein Auto kam plӧtzlich aus der anderen Richtung. Ich wollte schnell ausweichen- und habe das Eis nicht gesehen. Zum Glück hatte ich einen Helm auf!” “So etwas Blӧdes, ausgerechnet zu Weihnachten. Das tut mir aber leid!” begrüsse ich sie. “Sie kӧnnen von hier aus gerne ihren Eltern bescheid sagen. Wissen Sie schon, wie es weitergeht?” frage ich sie. “Ich glaube, ich muss nachher noch operiert werden,“ antwortet sie tapfer. Sie verzieht das Gesicht. “Ich organisiere Ihnen schnell etwas gegen die Schmerzen!”

  Nachdem ich sie versorgt habe- die anderen beiden schlafen immer noch, die Monitore piepsen friedlich und dumpf vor sich hin, alles sieht ruhig aus, kommt Jose plӧtzlich auf mich zu. “Mӧchte meine junge Kollegin gar kein Weihnachtsessen? Sie sollte sich beeilen!” Ich sehe auf die Uhr. Tatsächlich, die Mittagszeit ist schon fast vorbei. “Siehst du noch einmal nach Nina Schmitz? Sie hat wohl einen bӧsen Oberschenkelbruch, sie muss erst noch zum Rӧntgen, aber ich habe ihr gerade Schmerzmittel angehängt,” bitte ich ihn. “Die anderen beiden schlafen gerade. Für Herrn Ricken suche ich nach einem Pflegedienst, falls sich jemand per Telefon meldet, weisst du bescheid.”

  Herrlich, Weihnachtspause! Noch besser, meine Freundin aus der Geriatrie arbeitet heute auch, und wir kӧnnen zusammen essen! Ich verlasse die Station.

  3.Drei kleine Wunder

  Nach einer halben Stunde Gänsebraten, Rotkohl, Kroketten, süssem Pudding, Punsch und einem lustigen Weihnachtsschnack mit Christine komme ich gut gelaunt zurück in die Notaufnahme.

  Gerade verlässt Jose Nina Schmitz’ Kabine. Ein merkwürdiger Ausdruck ist in seinem Gesicht. Bilde ich mir das ein? Er scheint mit den Gedanken sehr, sehr weit weg zu sein. Plӧtzlich fängt er an zu strahlen. Das Lächeln beginnt in seinen Augen, ohne dass der Mund sich bewegt, sie beginnen zu glänzen. Dann bewegen sich die Muskeln der Augen, sie lächeln. Und schliesslich breitet sich die Freude über das ganze Gesicht aus, bis auch seine Mundwinkel nach oben wandern. Hm. Was ist denn hier los?

  Ich sehe ihn fragend an. “Geht es dir gut?” “Si, muito- ah, sehr gut, danke. Heute ist ja Weihnachten.” Er wird rot. Mit dieser kryptischen Antwort lässt er mich stehen. Dreht sich um, und- geht nicht etwa zu seinen Patienten zurück, sondern verschwindet wieder bei Nina. Leise Stimmen dringen aus der Kabine. Vielleicht habe ich ihn bei einer Beobachtung gestӧrt?

  Ich sehe nach Herrn Ricken. Er ist inzwischen aufgewacht und sitzt im Bett. Ich erkläre ihm, dass wir ihm einen Pflegedienst organisieren wollen. Der vielleicht heute abend schon anfangen kann, so dass er zu Hause übernachten kann. “Das ist ja wunderschӧn. Mein Sohn wollte morgen abend kommen, ich habe mich so auf ihn gefreut” erzählt er mir. Er hat ein warmes, volles Gesicht, trägt eine halbe Brille, hat eine grosse, gesprenkelte Glatze und lächelt. “Haben Sie die Telefonnummer Ihres Sohnes dabei? Vielleicht kann er ja sogar hier vorbeikommen. Das mit dem Pflegedienst zu Weihnachten kӧnnte ein bisschen länger dauern!” Mit klarer Stimme sagt er mir langsam die Nummer. “Die kenne ich immer. Er bedeutet mir so viel, mein Rudi.” Ich werde ihm ein Weihnachtsessen organisieren, dem freundlichen Mann!

  Auch Kerstin ist aufgewacht. “Wie geht es Ihnen?” frage ich sie noch einmal. Sie sieht mich an. “Endlich sind meine Bauchschmerzen besser geworden. Ich konnte einfach nicht mehr, heute morgen,” erklärt sie mir. Sie sieht viel entspannter aus als vorhin, allerdings hat sie immer noch tiefe Falten zwischen Mund und Kinn. Heute morgen? “Meinen Sie die Schmerzen, nachdem Sie die Tabletten eingenommen haben?”

  “Nein, vorher! Mir hilft ja niemand! Mein Mann war nicht da, ausgegangen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte!” “Wollten Sie sich denn umbringen?” frage ich sie dreist. So eine schwierige Frage! “Umbringen? Mir hilft ja niemand!” erklärt sie. “Aber wir helfen Ihnen doch! Wenn Sie solche Schmerzen haben, kӧnne Sie doch sofort kommen! Da müssen Sie doch keine Überdosis einnehmen!” erschrocken streichele ich schon wieder ihre Schulter.

  Sie sieht mich immer noch an. “Wirklich?” Das kann doch nicht sein, dass sie das nicht wusste? Oder? “Geht es Ihnen jetzt denn besser?” frage ich sie. “Ja, vielen Dank. Viel besser.” “Was ist denn heute mit Ihrem Bauch?” “Ach, das weiss niemand so genau. Habe ich gar nicht erzählt.” Hm. Ich werde nochmal mit Frau Selzer sprechen. Vielleicht sollte sie da noch einmal genauer nachsehen.

  Nachdem ich beides erledigt habe, gehe ich wieder zu Nina. Jose sitzt ganz dicht neben ihr. Und sie blicken sich an. Nicht wie eine Patientin und ein Pfleger, viel vertrauter. Ich räuspere mich. Niemand reagiert. “Hallo.” Zӧgernd wendet Jose den Kopf und blickt mich an. “Das ist Nina!” sagt er zu mir. Ach wirklich. Ich runzele die Stirn. “Wir waren unser ganzes Leben zusammen! Wir kennen uns schon, seit wir ganz klein sind.” Er hebt Daumen und Zeigefinger, und deutet die Grӧsse von 5 cm an. Nina lächelt inzwischen. “Nina hat mir deutsch beigebracht. Wir haben uns aus den Augen verloren.” Nina lehnt sich leicht zu ihm. “Ich bin umgezogen. Aber schon seit zwei Jahren wieder hier. Wie habe ich Jose gesucht! Aber dort, wo er früher gewohnt hat, lebt jetzt jemand anders. Seine Eltern habe ich nicht mehr erreicht.” “Nein, die wohnen inzwischen in Sao Paolo, und sonnen sich.” Er lacht froh. “Jetzt lass ich dich nicht mehr los!” sagt Nina. Und stӧhnt. Jose wirft ihr einen Blick zu. Einen besonderen, langen Blick. Langsam wendet er sich dann zu mir: “Sie wird in dreissig Minuten operiert. Ich bleibe so lange bei ihr, meine Betten sind inzwischen alle leer. Ist das ok für dich?” fragt er. Was für eine Frage! Ich grinse ihn an. Was soll ich noch sagen.

  Da betritt Arnold Schwarzenegger die Notaufnahme. Ist er es wirklich? Und kommt auf mich zu? Er sieht allerdings besorgt aus. “Sind Sie Ethel?” fragt er mich. “Haben Sie Herrn Ricken gesehen?” Er hat eine tiefe, leicht rauhe Stimme. Wunderbar! Wenn es keinen Stefan gäbe… “Ja, die bin ich, und ja, den kenne ich. Suchen Sie ihn?” Ich bin Rudolf Ricken, sein Sohn. Rudi? Den hatte ich mir ganz anders vorgestellt! Der Name passt ungefähr so gut zu ihm wie Nutella zu Truthahn. A propos. “Ich habe ihm gerade ein Weihnachtsessen organisiert. Wie schӧn, dass Sie kommen konnten!”

  “Wie geht es ihm denn?” “Er hat sich den rechten Arm verletzt, so kann er leider nicht alleine nach Hause entlassen werden. Er kann sich ja nicht alleine versorgen,” erkläre ich ihm. “Ich habe versucht, einen Pflegedienst zu finden, aber das ist zu Weihnachten schwierig.” “Vielen Dank.” Herr Ricken betritt die Kabine seines Vaters. Und fällt ihm, ganz langsam und vorsichtig, um den Hals. Wie schӧn.

  Ich sehe noch einmal nach Kerstin. Ob sie verstanden hat, dass sie auch ohne Überdosis bei uns “willkommen” ist? Frau Selzer ist gerade bei ihr, und macht einen Ultraschall vom Oberbauch. Da will ich nicht stӧren.

  Ich setze mich an den kleinen Tisch, um meine Schreibarbeiten zu erledigen. Herr Ricken, junior, kommt auf mich zu. “Kann ich meinen Vater einpacken und mitnehmen? Er bleibt für die Feiertage bei uns auf dem Hof.” Unternehmungslustig reibt er sich die Hände.

  Das ist Weihnachten… Das kann doch nur der heilige Geist sein? Ich lächele vor mich hin. Heute abend werde ich meine Eltern besuchen, morgen früh gibt es das alljährliche Kirchenkonzert, und gleich werde ich wahrscheinlich sogar Stefan noch kurz sehen. So langsam wird es dunkel, die Lichterketten glitzern. So schlecht gefällt mir mein Weihnachten in diesem Jahr gar nicht.

  Vielen Dank fürs Lesen! Wollt ihr Ethel näher kennenlernen, Stefan, Eva, Melissa und das Arbeiten in der Notaufnahme? Der Roman über Ethel heisst “Neu in der Notaufnahme”. Er kann jetzt vorbestellt werden.

 
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